Offensichtlich hat die Universität Kassel also viel von einem „Technologie-Optimierer“, der eng mit Unternehmen kooperiert. Verstehen Sie sich denn auch als Unternehmer-Universität?
Dr. Fromm: Ich bin sehr froh, dass wir im Zuge der Hochschulautonomie seit 2000 selbst entscheiden können, welche Strategien wir entwickeln und wie wir unsere Gelder verwenden, welche Bereiche wir aufbauen oder fördern und wo wir Schwerpunkte setzen. Wir betreiben empirische Bildungsforschung und arbeiten an der Energieversorgung der Zukunft. Wir haben hier die hellste Labor-Röntgenquelle der Welt installiert und arbeiten an Textilien aus Holz. Etwa die Hälfte der Universität ist technisch ausgerichtet. Aber wir bieten letztlich alle Fächer mit Ausnahmen von Jura - wohl aber Wirtschaftsrecht - und Medizin. Aus dieser Breite und Ausprägung der Themen schöpfen wir unserer Stärke - Interdisziplinarität ist tief in unserer DNA verankert.
Wenn sich neue Optionen eröffnen, wird geprüft, ob das zu uns passt und dann in Abwägung von Chancen und Risiken entschieden, ob wir das machen. Wir sind kein Unternehmen, aber Universitäten handeln im Rahmen ihrer Autonomie unternehmerisch im weiteren Sinne.
So trat vor gut 10 Jahren ein Konsortium von Unternehmen an uns heran, für das die Gießereitechnik relevant ist. Sie fragten uns, ob wir gemeinsam ein entsprechendes Fachgebiet aufbauen könnten. Wir haben schnell erkannt, dass das in der deutschen Hochschullandschaft eine Nische ist und unternehmerisch ganz klar entschieden: Da gehen wir rein. Heraus kam dieses Zentrum für Gussleichtbau und Konstruktion und Vieles von dem, was hier an wissenschaftlicher Infrastruktur steht, ist von der Industrie finanziert. Um gemeinschaftlich solche Projekte entwickeln zu können, muss man sich, glaube ich, gut kennen. Denn es gehört auch eine Menge Vertrauen dazu, weil wir nicht für jeden Handgriff, den man miteinander macht, eine Vertraulichkeitserklärung unterzeichnen können. Und dieser gemeinsame Mehrwert lässt sich letztlich nur über eine kontinuierliche, dauerhafte Zusammenarbeit erzielen und nicht, wenn man nur in Einzelprojekten denkt. Aktuell haben wir allein im Gießereibereich ein Fördernetzwerk von um die 30 Unternehmen. Sie erhalten hier im vorwettbewerblichen Stadium Zugang zu praxisorientierter Forschung. Wir machen Vorschläge, wo wir Schwerpunkte setzen könnten, und die Industrie wirkt mit. Und das funktioniert gut, obwohl hier zum Teil sogar Wettbewerber zusammenkommen. Aber alle wissen eben, wie man sich benimmt und wie weit man gehen kann.
Gibt es an der Uni Kassel auch eine Gründer-Mentalität?“
Dr. Fromm: Selbstverständlich. Das ist die andere unternehmerische Dimension. Wir haben schon lange eine sehr aktive Gründungsförderung an der Universität Kassel. In unserer zentralen Transferorganisation UniKasselTransfer war dies schon immer ein Aufgabenschwerpunkt. 2015 haben wir mit der Stadt Kassel den Science Park auf dem Campus errichtet, als zentralen Ort für wissensbasierte Unternehmensgründungen. Wir wollten damit auch eine Art Symbol schaffen für den Wissenstransfer in die Anwendung und das habe ich mit aufgebaut. Heute nutzen den Science Park immer zwischen 40 und 50 Start-Ups aus der Uni oder mit starkem Uni-Bezug. Sie werden von uns begleitet von der allerersten Idee. Es ist ganz wichtig, Ideen in der Uni aufzusammeln und Studierende und Forschende zu motivieren und sie zu ertüchtigen, ihre Ideen auch zu verfolgen. Wir geben ihnen eine Bühne, damit sie Finanziers, potenzielle Partner und Kunden kennenlernen, veranstalten Wettbewerbe und vieles mehr. Aber dann muss Schluss sein, denn die Entwicklung des Geschäftsmodells ist die klare Aufgabe eines Unternehmers oder einer Unternehmerin und nicht Aufgabe der Universität. Deshalb ist die Begleitung der Gründer am Anfang sehr intensiv und dann zieht sich die Universität zurück. Letztlich muss allen Gründern klar sein: Sie sind eigenständig unterwegs und müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Und das tun viele recht erfolgreich. So wie etwa – ganz aktuell - die Firma Revolute. Beim Fahrradfahren ärgerten sich die Gründer, weil es am Berg so mühsam war, und die beiden entwickelten kurzerhand ein neues Getriebekonzept für Fahrräder und Pedelecs. Das ist halb so teuer und halb so schwer wie die gängigen Antriebe und wird inzwischen bereits produziert. 10 Mitarbeiter hat das Unternehmen schon und der einzigartige Getriebemechanismus wird in abgewandelter Form auch in Autos verbaut. Übrigens waren einige unserer ehemaligen Start-Ups auch schon unter den Finalisten und sogar unter den Siegern des Innovationswettbewerbs Hessen Champions.
Wo sehen Sie Technologieführerschaften der Uni Kassel, die für die hessische Industrie wichtig sind?
Dr. Fromm: Wir haben für die Universität Kassel zwei Forschungsfelder definiert, in denen wir ganz besondere Schwerpunkte setzen. Das sind zum einen Multifunktionale Materialien – die Gießereitechnik, über wir gesprochen haben, ist hier ein Beispiel, aber die Bandbreite reicht von leitfähigen Kunststoffen über Metall-3D-Druck bis zur Nanotechnologie. Insbesondere die Bereiche Maschinenbau, Elektrotechnik und Bauingenieurwesen, die bei uns traditionell sehr stark sind, bringen sich hier ein, aber auch Disziplinen wir Architektur oder Physik.
Der andere Schwerpunkt ist Nachhaltigkeit. Das hat an unserer Universität eine lange Tradition über alle Disziplinen und ist gerade für die Industrie über die Jahrzehnte immer interessanter geworden. Denken Sie an nur an die Entwicklung von ressourcenschonendem Beton oder Grundlagenforschung zur biologischen Produktion von Wasserstoff. Eine herausragende Story ist die Firma SMA, die aus der Elektrotechnik der Universität hervorgegangen und im Bereich Solarenergie-Technik erfolgreich ist.
Welche Wettbewerbsvorsprünge halten Sie für wichtig und auch schon für machbar?
Prof. Dr.-Ing. Martin Fehlbier: Der Leichtbausektor bietet ein ungeheures Potenzial, das viele leider noch wenig auf dem Schirm haben. Carbon wird immer der Spezialwerkstoff bleiben und nicht in die Massenproduktion kommen, da man das Material kaum wiederverwerten kann. Recyclingfähigkeit spielt aber eine immer größere Rolle. Und da kann die Gießereitechnik in der Kombination mit der Werkstofftechnik einfach punkten. Elon Musk hat mit Tesla sehr innovativ Dinge neu gestaltet und in vielerlei Hinsicht im Prinzip eine Revolution ausgelöst. Auch in der Gießereitechnik. Er gießt halbe Auto-Karosserien noch in „Spielzeug-Gießzellen“. Er tauscht 70 Teile gegen ein einziges aus. Technologisch sind wir Deutsche sicher besser, aber wir tun uns schwer, solche Schritte zu gehen. Wir sollten uns manches wirklich bei Elon Musk abschauen. Wenn wir uns endlich auch mehr trauen würden, wären wir sicher genauso gut, vielleicht sogar noch besser.
Warum haben Sie die Kooperationsvereinbarung mit HESSENMETALL unterzeichnet?
Dr. Fromm: Unternehmen suchen den direkten Weg zu den Fachbereichen. In der Regel finden sie die passenden Partner auch, aber es gibt immer noch Potenzial, nicht zuletzt, weil durch Neuberufungen stets neue Professor*innen hinzukommen. Mit Hessenmetall verbindet uns eine langjährige, auch auf der persönlichen Ebene vertrauensvolle Zusammenarbeit. Hessenmetall unterstützt uns, Angebote der Universität aus Forschung und Lehre in die Unternehmen zu tragen. Der enge Draht, den Hessenmetall zu den Mitgliedsunternehmen hat, ist dabei sehr unterstützend. Mit der Kooperationsvereinbarung haben wir uns vorgenommen, die technologischen Partnerschaften noch intensiver zu entwickeln. Die ersten Pitchings, die wir vor Corona hatten, waren sehr produktiv und wir werden dies jetzt fortführen.
Zur Person:
Dr. Oliver Fromm
Dr. Oliver Fromm ist Jahrgang 1964 und studierter Volkswirt. 1997 promovierte er an der Universität Marburg in Volkswirtschaftslehre. Nach verschiedenen Stationen in Wissenschaft und Wissenschaftsmanagement wechselte er 2003 zur Universität Kassel, um die zentrale Einrichtung UniKasselTransfer aufzubauen. Seit 2005 war er zudem Geschäftsführer der UNIKIMS GmbH Management School und seit 2009 war er als Geschäftsführer verantwortlich für den Bau des Science Park Kassel. Seit 2015 ist er Kanzler der Universität Kassel. 2021 wurde er für weitere sechs Jahr in diesem Amt bestätigt.
Prof. Dr.-Ing. Martin Fehlbier
Prof. Dr.-Ing. Martin Fehlbier studierte und promovierte an der RWTH Achen in der Fachrichtung Gießereitechnik. Nach mehreren Jahren in der Industrie war er zuletzt bei VW in Kassel Leiter des Technologiezentrum Gussentwicklung und Al-Mg-Strukturteilefertigung. 2012 wurde er auf die neue Professur für Gießereitechnik an die Universität Kassel berufen und leitet seitdem das Fachgebiet für Gießereitechnik (GTK).
Die Universität Kassel
Die Universität Kassel ist mit aktuell rund 23.000 Studierenden und über 3000 Beschäftigten seit 1971 Motor der Region Nordhessen. Schwerpunktthemen der wissenschaftlichen Arbeit sind Umwelt-, Klima- und Energieforschung, Informationstechnik-Gestaltung, Nanostrukturwissenschaften und Bildungsforschung. Über 60 Fachgebiete mit Umweltschwerpunkt verleihen der Hochschule ein unverkennbares Profil. Noch in diesem Jahr soll das Institute for Sustainability eröffnet werden, ein in Deutschland einzigartiges wissenschaftliches Zentrum, das zu Nachhaltiger Entwicklung und Transformation forschen und lehren wird. Die Uni Kassel ist mit unzähligen Partnern in der Region in Forschungskooperationen und über den Wissenstransfer verbunden.